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Selbstdisziplin und Willenskraft

Den Kern des Dilemmas hat sehr treffend Goethe beschrieben mit seinem berühmten Satz

“Was im Idealen ist der Elan, ist im Realen die Beharrlichkeit…”

Im Laufe der Jahrzehnte konnte ich viele Menschen dabei beobachten, wie sie sich neugierig mit Tai Chi Chuan beschäftigen, zunehmend begeistert davon sind und das Erlernen dieser Kunst nutzen als Katalysator für ihr Leben. Dabei ist auffällig, dass der moderne Mensch immer wieder Probleme mit zwei Aspekten hat: Selbstdisziplin und Willenskraft.
Was ist Selbstdisziplin? Viele Menschen verstehen unter Disziplin hauptsächlich Fremddisziplin. Diese wird uns von außen auferlegt, häufig ohne unser Zutun. Sie kann uns enorm einschränken und stört uns unter Umständen in unserer Entfaltung und ist äußerst unpopulär.
Eigendisziplin hingegen ist im Grunde etwas sehr Positives. Es ist eine Schlüsselfähigkeit, unser Leben positiv zu beeinflussen, es zu gestalten und Wünsche, Ziele, Träume in die Realität umzusetzen. Ein glückliches Leben hat viel mit dieser Fähigkeit zu tun…
Um das eigene Leben mit Selbstdisziplin zu gestalten und zu strukturieren, braucht der Mensch vor allem eines: Willenskraft. Mit dem mentalen Fokus der eigenen Aufmerksamkeit kann man sehr viel verändern und erreichen. Willenskraft ist ähnlich wie das Sonnenlicht. Dieses strahlt normalerweise in alle Richtungen. Wenn man dieses Licht aber bündelt, so entsteht ein Laserstrahl, der auch härteste Materie durchdringt und enorme Kraft besitzt. Wird die Willenskraft auf ein Ziel konzentriert, so kann viel passieren…
Leider ist die Willenskraft vieler Menschen geschwächt. Ursachen dafür gibt es viele:
Streß, zu viele Ablenkungen, Medienkonsum, Computerarbeit, Aufzucht von Kindern, zu hohe Geschwindigkeit des Alltags, falsche Ernährung, ungesunder Lebensstil etc. Ist der Wille geschwächt, entsteht häufig ein Teufelskreis. Beispielsweise kann man sich zum Taichi Üben aus geistiger Schwäche heraus nicht mehr aufraffen, aber gerade das Üben würde die Willenskraft stärken.
Dieser Prozeß ist häufig zu beobachten bei Menschen, die langsam in eine Depression rutschen. Burnout ist das Stichwort…
Zudem sind viele Menschen nicht in der Lage, ihren Geist und damit ihre Willenskraft ausreichend zu fokussieren. Leider konnte ich im Laufe der Jahre eine deutliche Verschlechterung dieser Qualität in unserer Bevölkerung beobachten.

Ausserdem ist es meiner Meinung nach wichtig, dass man lernt, die Willenskraft nicht unnötig zu verschwenden durch unwichtiges und überflüssiges.
Obwohl den meisten Menschen Gesundheit mit am wichtigsten ist, konzentrieren sie ihre geistigen und materiellen Ressourcen nicht ausreichend auf dieses Ziel. Die Quittung dafür kommt häufig erst Jahre später und dann ist der Schaden da.

Wie kann Tai Chi Chuan bei diesen zwei Schlüsselfähigkeiten Selbstdisziplin und Willenskraft hilfreich sein?
Ein wichtiger Aspekt ist die Harmonisierung des Chi (Lebensenergie). Ein gesunder Geist und eine gut entwickelte Willenskraft ist verknüpft mit einer harmonischen Lebensenergie Chi. Deshalb gehen Ärzte der traditionellen chinesischen Medizin seelische Probleme meist mit einer Behandlung des Chiflußes durch Kräutertherapie und Akupunktur an. Auch Schulmediziner klären bei einem depressiven Patienten ab, ob körperliche Erkrankungen vorliegen, die diese Depression verursachen können ( z.B. silente chronische Inflammation) oder ob sie bedingt ist durch Nebenwirkungen eines Medikamentes.
Durch die harmonischen Bewegungen des Tai Chi Chuan passiert eine Reihe von positiven Veränderungen: das Hormonsystem wird rebalanciert, der Stoffwechsel angeregt, der Reparaturmodus des Körpers gefördert. Gehirn und Nervensystem werden stimuliert und gleichzeitig beruhigt, Glückshormone werden ausgeschüttet, das Abwehrsystem gestärkt etc. Der Mensch regeneriert sich schneller, als in Ruheposition auf dem Sofa…

Viele Menschen mit hauptsächlich geistiger Arbeit leiden unter der Vernachlässigung des Körpers und der fehlenden Verbindung der geistigen und körperlichen Ebenen.
Durch die Verknüpfung von bewußter Aufmerksamkeit des Geistes durch gezielte, bewußte Bewegung des Körpers werden diese wieder miteinander versöhnt.

Ein gutes Beispiel für die Förderung der Willenskraft ist das sogenannte “Stehen wie ein Baum”, Zhan Zhuang. Durch das Stehen in einer anspruchsvollen Position kommt bald der innere Schweinehund hervor, der uns überreden will, die Übung schnell abzubrechen. Indem wir diesem Drang der Faulheit widerstehen, stärken und trainieren wir unsere Willenskraft, unser Chi und unseren Körper. Wer diese Methode mehrere Monate täglich übt, kann beobachten, wie der eigene Geist stärker wird und die Willenskraft wächst und besser fokussiert.

Der Versuch, mit Selbstdisziplin regelmäßig und hoffentlich täglich Taichi zu üben, kann zu einer Reihe von tollen Veränderungen führen. Bessere Gesundheit, Körperwahrnehmung, Beweglichkeit, geistige und körperliche Ausdauer, mehr Glücksgefühle, Harmonie und ein gesunder Abstand zu den weltlichen Aspekten des Lebens um nur einige zu nennen. Leider kommen diese Erlebnisse und Belohnungen nicht sofort und alle gleichzeitig. Es ist deshalb sinnvoll, mit Disziplin eine gewisse Zeit in “Vorleistung” zu gehen, bis man anfängt, mehr und mehr dieser Veränderungen wahrzunehmen. Da sitzt das Problem bei vielen Anfängern. Sie lassen sich verunsichern und ablenken, weil es nicht alles sofort passiert und man erst einmal “investieren” muss.

Stagnation ist der Feind des Lebendigen. Viele Menschen sind unzufrieden oder unglücklich, weil ihr Leben in zu vielen Aspekten stagniert.
Zu erleben, wie die eigenen Fähigkeiten wachsen, auch im fortgeschrittenen Alter, und Zeit seines Lebens im Lehrsystem des Tai Chi Chuan weiter neues zu lernen und sich zu entfalten, ist unheimlich zufriedenstellend und beglückend.

Doch dafür muss man Selbstdisziplin und Willenskraft kultivieren und entwickeln.

Ich wünschte mir, dass Anfänger des Tai Chi Chuan all die positiven Erfahrungen, die ich im Laufe von mehr als 30 Jahren selbst gemacht habe und bei meinen Schülern beobachten durfte, selbst sehen könnten. Leider ist dies nicht möglich.

Es bleibt als jedem Übenden selbst überlassen, seine Erfahrungen zu machen und die eigene Entwicklung zu beobachten und voran zu treiben.

Wichtig ist, dass man sich erfüllbare Ziele setzt, ansonsten ist das Scheitern vorprogrammiert. Am besten bewährt hat sich die “Fünf-Minuten-Regel”:

ich übe jeden Tag mindestens fünf Minuten Tai Chi Chuan und dies ist nicht verhandelbar.

Am besten tut man dies in einem geplanten zeitlichen Kontext.

Die Vorteile dieser Vereinbarung mit sich selbst sind offensichtlich. Alles, was ich täglich mache, wird zur guten Gewohnheit. Jeder Mensch hat fünf Minuten Zeit.
An guten Tagen übe ich noch länger, wenn ich schon einmal losgelegt habe.
Unerfüllbare Zielvorgaben frustrieren meist mehr, als dass sie motivieren.

Abschließend stellen wir fest: um Tai Chi Chuan zu erlernen sind ein ausreichendes Maß an Selbstdisziplin und Willenskraft nötig. Diese Fähigkeiten wiederum werden gefördert durch das regelmäßige Üben des Tai Chi Chuan. Ein interessanter Kreislauf und Anlaß, über die merkwürdige Konstruktion, genannt Leben, etwas mehr nachzudenken…

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